





Erfahrungsbericht von Sophia Heeg
Ich betrete das Klassenzimmer und werde neugierig von zwanzig Kindern angeschaut. Wer bist du? Wie heißt du? Woher kommst du? Was machst du hier? Sie stellen tausende Fragen gleichzeitig und das auch noch in der Sprache, die ich nicht spreche. Aufgeregt und überfordert setze ich mich in den Stuhlkreis. Der Tag beginnt mit dem täglichen Morgenvers. Auch beim Frühstück hören die Fragen nicht auf: Bist du mit dem Flugzeug hergeflogen? Gibt es in Deutschland Schnee? Was ist deine Lieblingsfarbe? Bist du Corinthers Fan? Als ich gerade eine Frage gebrochen beantworten will, kommt schon die nächste. Und ich frage mich: Werde ich diese Sprache wohl jemals sprechen?
Heute wird für einen großen Auftritt geprobt. Ich betrete die Musikschule und fühle ich mich wie in einer neuen Welt, von der ich vorher nicht einmal wusste, dass sie existiert. Alle Kinder holen ihre Instrumente und bereiten sich auf die Probe vor. Ich stehe am Rand des kleinen Raumes, beobachte das Geschehen, mit Staunen. Die Kinder aus der Favela ab sechs Jahren spielen mit ihren kleinen Geigen und Celli im Orchester. Der Moment ist so wahnsinnig rührend, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Nach 12 Stunden Flug, am anderen Ende der Welt, ohne Familie und Freunde und ohne die Sprache zu verstehen, fühle ich mich plötzlich wie angekommen. Durch den vertrauten Klang der Geigen, von Musikstücken, die ich sogar kenne, fühle ich mich ein bisschen wie zu Hause. Drei Tage später, am Tag der großen Präsentation „10 Jahre Escola de Música Monte Azul“, bin ich immer noch sprachlos. Der Fußballplatz der Favela ist farbenfroh geschmückt und mit Familien und Mitarbeitern von Monte Azul gefüllt. Die Schüler der Musikschule betreten den Platz und beginnen ihre Präsentation. Das Publikum ist begeistert und ich weiß: An diesem wunderbaren Ort werde ich viel für mein Leben lernen.
Und damit werde ich recht haben.
In den ersten Tagen lerne ich mit Händen und Füßen zu kommunizieren. Ich lerne das brasilianische Essen kennen (natürlich immer mit Reis und Bohnen kombiniert – das ist klar). Jeden Tag lerne ich neue Wörter auf Portugiesisch, wie „silêncio, por favor“, „vamos fazer aulas“. Ich lerne alleine zu leben und alleine auf neue Leute zuzugehen. Dabei bemerke ich, dass die Brasilianer viel gastfreundlicher sind und verstehe: Es ist völlig okay Fehler zu machen.
Zu Beginn beobachte ich sehr viel. Ich beginne denn täglichen Rhythmus der Kinder zu verstehen. Und ich sehe, wie viel Mühe die Erzieher*innen in ihre Arbeit stecken. Ich schaue begeistert zu, wie Tammy, die Geigenlehrerin, den kleinsten Kindern das Geigenspiel beibringt. Ich sehe, wie alle Lehrer*innen stets mit den Kindern auf Augenhöhe bleiben.
Jeder Tag ist wie eine Achterbahn der Gefühle. In einem Moment bringt mich ein Kind zum Lachen, im nächsten Moment bin ich traurig über eine Lebensgeschichte eines Kindes. Manchmal fühle ich mich völlig überfordert und manchmal bin ich stolz auf das, was ich schon erreicht habe. Manchmal habe ich Heimweh und manchmal freue ich mich, die brasilianische Kultur kennenzulernen.
Trotz all der kleinen Hindernisse könnte ich nicht dankbarer sein für all die Erfahrungen, die ich bisher gemacht habe. All die Aufführungen und Konzerte, der Geigenunterricht, die Fortschritte der Kinder und deren Stolz darüber, die Ausflüge zum ‚Sala de São Paulo‘ und meine Teilnahme am ‚Camerata‘-Orchester. Nach einiger Zeit und mit mehr Portugiesisch-Kenntnissen übernehme ich immer mehr Aufgaben. Ich erfahre mehr über die Lebensgeschichten der Kinder und das Projekt Monte Azul. Jeden Tag übe ich mit den Kindern Geige, spiele Fußball, bastle mit der Gruppe und gewöhne mich mehr und mehr an das neue Leben in Brasilien. Dabei verstehe ich jeden Tag etwas Neues.
Obwohl Brasilien so anders ist als Deutschland, gibt es eine Sache, die überall gleich ist: die ansteckende Lebensfreude von Kindern und Leidenschaft für Musik.





